Schwingungsschwankung

Es gelingt, Jens in eine konstruierte Aufgabe und Falle zu verwickeln. Dabei scheitert er auf der Suche nach Bedeutung.

…Schakalakabum. Jens hat den Knopf gedrückt und sich in die Falle locken lassen. Er verhandelt wieder.
Dieser Text ist etwas länger als die bisherigen weil es gerade so spannend ist. :-) Happy reading.

Das aufpoppende GravoMet Problem war konstruiert. Jens musste seine starke organisationale und sehr kognitive Prädisposition vor Augen geführt werden. Dazu war es nötig, dass er sich selbst ganz am Boden liegen sah. GravoMet hatte nichts mit Projekt P zu tun. Zum Glück.

Immerhin hatte er gezögert, den Ausweg in die Vergangenheit zu nutzen, um wieder auf sicherem Terrain zu gelangen und die Entlern-Reise abzubrechen, die ihn in die Arche B geführt hat. Das half nun aber nichts. Er war bereits wieder mittendrin. Die nächsten Stunden wird Jens an der Aufgabe scheitern, hier zu deeskalieren.

Das GravoMet-Problem war keine Aufgabe. Es war ein Köder. Jens ahnte es. Und trotzdem klickte er sich durch die Maske. Vielleicht war es Neugier. Vielleicht Restprogrammierung.

Die Meldung schien konkret und echt:
„Lieferant meldet Preisabweichung bei Rahmenvertrag 20250415_Cast/IT. Begründung: Energetische Verschiebung in der Beziehung.“

Darunter:
„Kunde hat Schwingung verändert. Wir passen die Preise an.“

Jens scrollte. Absurd. Es gab keine Zahlen, keine Mengen. Nur einen handschriftlich eingescannten Brief auf liniertem Papier mit Kaffeefleck. Unterschrift: Sandro, der jüngere der beiden Brüder, der früher immer sagte: „Verhandeln ist nur, was man zwischen zwei Espressi machen kann.“

Jens fühlte sich kurz wie im Fieber.

Sollte er antworten?

Er schrieb sachlich. „Bitte um formale Begründung der Abweichung. Gemäß Rahmenvertrag Position 3.2 Absatz (b) ist eine einseitige Anpassung unzulässig.“

Er schickte es ab und atmete aus.

Und noch bevor er den Bildschirm schließen konnte, kam eine Antwort.

“Laut Appendix 1 Absatz 2 haben wir die Möglichkeit, bei energetischen Verschiebungen Anpassungen vorzunehmen”

“Hm?!”, dachte Jens,

“Diese Antwort kommt schnell. Ist sie von einem Bot?” dann fluchte er laut “Dass man das auch nicht mehr unterscheiden kann!”

Er dachte an damals, an Herbst 2026, als die Singularität* erreicht war. Das war der Auslöser für Jens’ tiefe Depression, die ihn in Kur auf die Insel Norderney führte, wo er sich, statt sich um seinen Seelenzustand zu kümmern, mit einem Kurschatten** vergnügt hatte. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.

Er schrieb direkt zurück, denn er erinnerte sich genau an das Appendix 1, das sie im Nachhinein auf Grund eines neuen Code of Conducts (CoC) seines Unternehmens hinzufügen mussten. Dieser CoC v2 besagte, dass es Lieferanten erlaubt ist, “Energetische Verschiebungen in der Beziehung” als Kündigungsgrund anführen zu können. Dieser Zusatz war den neuen Richtlinien der EU zu verdanken, die damals Indien mit aufgenommen hatte. Aber auch das ist eine andere Geschichte.

“Sie dürfen Anpassungen vornehmen; nur nicht bei den Preisen. Das haben wir im Verhandlungsprotokoll festgehalten und wir waren uns auch im Sinne eines Gentlemen-Agreements darüber einig.”

“Preise sind Ausdruck und Gradmesser unserer Stimmung. Das war schon immer so. Daran sollten Sie sich doch erinnern, porca miseria.”, kam prompt die Antwort.

Jens starrte in den Bildschirm.
„Porca… was?“

Er wollte gerade kontern: präzise, sachlich, mit Screenshot aus dem Protokoll – da vibrierte sein Handgelenk. Ein Impuls. Elektrisch. Er zuckte zusammen. Er trug gar keine Uhr.

Doch da war es, direkt vor ihm, als hätte es sich in die Luft geschrieben: Ein Pop-up. Nicht auf dem Terminal. Nicht auf seinem Interface. In der Luft? In seinem Kopf? Nur drei Worte, leuchtend wie aus einer anderen Realität:

„Wieder im Muster.“

Er erstarrte.

Und dann, zum ersten Mal, hörte er sich selbst.

„Sehr geehrter Herr Sandro, wir möchten an dieser Stelle betonen, dass unsere ursprüngliche Vertragsbasis…“

Er sprach laut. Nicht tippend, sondern wie ferngesteuert. Sein Mund führte ihn zurück in einen Konferenzraum von 2025, mit Catering und Klimaanlage und einer Geschäftsführerin, die „Synergie“ sagte wie ein Gruß.

Jens hielt inne. Er atmete flach. Er war wieder dort, aber nicht wirklich. Er war eine Simulation seiner selbst.

Plötzlich legte sich eine Hand auf seine Schulter.

Es war Karla. Sie kommentierte das Geschehen nicht, sagte nur:

„Ich habe auch mal versucht, gegen das zu verhandeln, was in mir selbst blockiert war.“

Jens blickte sie an. Sie nickte.
Dann nahm sie ihm das Terminal ab und tippte:

„Wir akzeptieren die Schwingung, nicht die Bedingung.“

Sie reichte ihm das Gerät zurück. Die Verbindung zu GravoMet brach ab. Kein Ton. Keine Antwort. Nur:

„Protokoll abgeschlossen. Lernpunkt erkannt.“

Jens ließ die Schultern sinken und sagte leise:

„Ich wollte das lösen.“

Karla:

„Vielleicht war das der Fehler.“

Dann wieder ein Flackern, schwarz-weisse Striche auf dem Bildschirm und ein Bild - von Sandro.

“Porca…” wollte Jens gerade leise sagen.

Doch eine blecherne Stimme kam ihm zuvor. Sie las Buchstabe für Buchstabe die Nachricht, nicht von Sandro, sondern vom System:

“Hinweis: Kommunikationsmuster erkannt.
Emotionale Resonanz: NULL
Wertschöpfungstiefe: 5%
Lernchance nicht genutzt.”

Jens starrte.

Er hatte keine Analyse angefordert. Aber irgendetwas oder irgendwer beobachtete ihn. Er klickte auf Antworten. Und da war es:

„Projekt P, Lernschleife aktiviert“. Modul 1: Deeskalation jenseits von Sprache”

Drei Minuten später stand er in einem Nebenraum.
Esmera hatte ihn geholt. Wortlos.
Der Raum war dunkel, warm. In der Mitte: eine Klangschale auf einem Kissen aus alten Ausschreibungsunterlagen.

„Setz dich“, sagte sie. Und „Nicht denken.“

Jens wehrte sich innerlich. Dann setzte er sich.

Sie schlug die Klangschale an. Ein gellender Ton füllte den Raum.
Dann: Stille.

Und in dieser Stille dachte Jens zum ersten Mal nicht an Preise. Sondern daran, wie oft er mit leerem Gesicht „verstanden“ gesagt hatte, ohne es je zu meinen.

Was wäre wohl passiert, wenn er auf die GravoMet Meldung nicht reagiert hätte?

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*Singularität
In der Technologiedebatte steht (technologische) Singularität für den hypothetischen Zeitpunkt, an dem künstliche Intelligenz die menschliche Intelligenz übertrifft und sich selbstständig weiterentwickelt.
Das würde zu unvorhersehbaren gesellschaftlichen und technologischen Veränderungen führen.

**Kurschatten (Substantiv, maskulin oder feminin)
Eine Person, mit der man während eines Kuraufenthalts eine flüchtige, meist unverbindliche Liebes- oder Flirtbeziehung hat.
Häufig endet diese Bekanntschaft mit dem Ende der Kur.